Untypischer kann ein Anwalt kaum sein: Bernhard Duder, dessen Name schon nach Biederkeit und Langeweile schreit, ist kein draufgängerischer Verteidiger, kein risikobereiter Paragraphendreher, sondern ein ruhiger, unsicherer und zurückhaltender Mann, den sein Jura-Studium nicht ausreichend darauf vorbereitet hat, dass man als Anwalt auch hin und wieder einem Richter gegenüber treten muss. Zum Glück hat Bernhard die für ihn perfekte Stelle gefunden, eine kleine Kanzlei, dessen noch aktiver Partner es nicht schlimm findet, wenn Bernhard lieber Akten sortiert als vor Gericht zu erscheinen, und der seinen Angestellten, der schon fast sein Protegé ist, gerne und ständig vertritt.
Auch privat läuft für Bernhard alles mehr als gut: Seit fünf Jahren liebt er seine Frau Gabriele und sie liebt ganz offensichtlich auch ihn. Dennoch hat Bernhard manchmal Angst, dass Gabriele ihn verlassen könnte, denn wie vor Gericht mangelt es ihm auch in der Beziehung an Selbstbewusst, und oft hat er das Gefühl, dass Gabriele eigentlich außerhalb seiner Reichweite liegen müsste. Dass ihr Chef und ihre Kunden nicht verhehlen, dass sie nicht nur professionelles Interesse an ihr haben, und dass so gut wie jeder Mann sich wie von selbst Gabriele gegenüber öffnet und ihr sein Leben erzählt, tut sein Übriges dazu, Bernhard zu verunsichern.
Noch eine weitere Sache trübt Bernhards Glück. Sein älterer Bruder Jonas ist spurlos verschwunden. Die Brüder waren seit der Kindheit eng miteinander verbunden, der viel selbstbewusstere Jonas, Philosophie-Student und Hausbesetzer, ebnete Bernhard den Weg aus dem Elternhaus und teilte mit dem Jüngeren sogar seine Freunde. Sich aus dem Staub gemacht hat Jonas an dem Tag, an dem Bernhard Gabriele auf einer Party von Jonas traf. Dass es da einen Zusammenhang gibt, ist mehr als klar, denn offensichtlich hatte auch Jonas Interesse an Gabriele – jedoch ohne dass Bernhard das wusste. Da die beiden Brüder vereinbart hatten, sich nie bei einer Frau in die Quere zu kommen, macht Bernhard sich noch heute Vorwürfe. Da Jonas und er sich trotz des Altersunterschieds von vier Jahren zum Verwechseln ähnlich sahen, wird Bernhard auch immer wieder an seinen verschwundenen Bruder erinnert, zumindest jedes Mal, wenn er in den Spiegel blickt.
Das Versteck: Auf der Suche nach dem Bruder und sich selbst
Als Gabriele für ein paar Tage mit ihrem Chef nach Frankreich muss, verliert Bernhard zusehends den Boden unter den Füßen. Zunächst träumt er von Jonas, später glaubt er, ihn wirklich gesehen zu haben, und auch andere Dinge in seinem Leben geraten aus den Fugen. Türen sind offen, obwohl sie geschlossen waren, Gegenstände verschwinden, die Espresso-Maschine funktioniert nicht mehr, und bald ist klar, dass Bernhard seinen Bruder suchen muss, wenn er endlich Frieden finden will.
Das Versteck kommt anfangs daher wie eine Geschichte über Liebe und einen Streit zwischen Brüdern, entwickelt sich aber schnell zu sehr viel mehr, zu einer komplexen, überraschenden und nicht immer leicht zu durchschauenden Identitätssuche. Der „Held“ des Romans wirkt dabei wie die personifizierte Harmlosigkeit, entdeckt aber selbst und gemeinsam mit dem Leser im Laufe der Handlung ungeahnte Tiefen seiner Persönlichkeit.
Neben der Geschichte um die beiden Brüder, die vor allem eine Geschichte von Bernhards Fixierung auf den älteren Jonas ist, spielen Beziehungen und vor allem Ehen eine große Rolle in Das Versteck. Die Beziehung zwischen Mann und Frau erscheint dabei wie ein ewiger Minderwertigkeitskomplex, ein permanentes Kräfte-Messen der Wertigkeit, in dem gezwungenermaßen einer unterliegen muss.
Nicht zuletzt geht es in Das Versteck auch um die Macht der Worte, darum, dass die Wirklichkeit nicht festgeschrieben ist, sondern durch Worte, durch das Gesagte, verändert werden kann und ständig verändert wird. Denn einmal in der Welt können Worte nicht zurückgenommen werden – auch ein Grund für das Verschwinden von Jonas, der zu seinem Wort steht, nicht eher zurückzukehren, bis Bernhard seine Beziehung vermasselt hat.
Worte schlagen Breschen in die Wirklichkeit, die nicht mehr geschlossen werden können.
Die Figuren in Das Versteck sind extrem gut ausgearbeitet, selbst die unscheinbarste Nebenfigur hat eine (meist tragische) Geschichte, deren Komplexität ihr absolute Authentizität verleiht.
Insgesamt ist Das Versteck ein sehr lesenswerter Roman über Identitätssuche und selbst verursachte Beziehungsschwierigkeiten, der inhaltlich und auch sprachlich immer wieder überrascht. Es dauert allerdings einiges an Zeit und Seiten, bis man sich in den Roman findet und die Harm- und Tatenlosigkeit Bernhards bringt einen manches Mal auf die Palme. Ansonsten aber ist Das Versteck absolut lesenswert und gewinnt beim zweiten Lesen – nachdem man das Ende kennt – noch deutlich hinzu.